Das Mädchen mit den Flachshaaren
aus: Préludes Band I 1909-1910
1. Woher kommt die Inspiration zu diesem Prélude?
2. Wie ist der melodische Hauptgedanke gestaltet?
3. Warum verwendet Debussy Pentatonik?
4. Wie verändert Debussy den Hauptgedanken bei jedem neuen
Auftreten?
5. Wie ist das Stück formal aufgebaut?
6. Welche harmonischen Besonderheiten wendet Debussy an?
Das Gedicht "La fille aux cheveux de lin" ist den "Chansons écossaises" des heute wenig bekannten französischen Dichters Charles-Marie Leconte de Lisle (1818-1894) entnommen, die 1852 in der Sammlung "Poèmes antiques" erschienen.
Original | Übersetzung |
---|---|
Sur la luzerne en fleur assise,
Qui chante dès le frais matin? C'est la fille aux cheveux de lin, La belle aux lèvres de cerise. |
Im blühenden Klee sitzend,
wer singt seit dem frühen Morgen? Es ist das Mädchen mit den flachsblonden Haaren, die Schöne mit den kirschroten Lippen. |
L'amour, au clair soleil d'été,
Avec l'alouette a chanté. |
Die Liebe hat in der hellen Sommersonne
mit der Lerche gesungen. |
Ta bouche a des couleurs divines,
Ma chère, et tente le baiser! Sur l'herbe en fleur veux-tu causer, Fille aux cils longs, aux boucles fines? |
Dein Mund hat göttliche Farben,
meine Liebe, und verführt zum Kuss. Auf der blühenden Wiese möchtest du sprechen, Mädchen mit den langen Wimpern, den schönen Locken? |
L'amour, au clair soleil d'été,
Avec l'alouette a chanté. |
Die Liebe hat in der hellen Sommersonne
mit der Lerche gesungen. |
Ne dis pas non, fille cruelle!
Ne dis pas oui ! J'entendrai mieux Le long regard de tes grands yeux Et ta lèvre rose, ô ma belle! |
Sag nicht nein, grausames Mädchen!
Sag nicht ja! Ich werde den langen Blick aus deinen großen Augen und deinen rosafarbenen Lippen besser verstehen, oh meine Schöne. |
L'amour, au clair soleil d'été,
Avec l'alouette a chanté. |
Die Liebe hat in der hellen Sommersonne
mit der Lerche gesungen. |
Adieu les daims, adieu les lièvres
Et les rouges perdrix ! Je veux Baiser le lin de tes cheveux, Presser la pourpre de tes lèvres! |
Lebt wohl ihr Damhirsche, lebt wohl ihr Hasen
und ihr roten Rebhühner! Ich werde das Blonde deiner Haare küssen und das Purpurrote deiner Lippen drücken. |
L'amour, au clair soleil d'été,
Avec l'alouette a chanté. |
Die Liebe hat in der hellen Sommersonne
mit der Lerche gesungen. |
Debussy ließ sich von dem Bild des im Klee sitzenden Mädchen mit den kirschroten Lippen und dem flachsblonden Haar zu einem Musikstück in reinem Ges-Dur anregen. Die Tonarten Ges-Dur und auch Des-Dur werden von Debussy immer dann verwendet, wenn er Wärme und Harmonie vermittlen will. Nur wenige Septnonakkorde trüben das Bild der reinen Durtonart. La fille aux cheveux de lin steht mit dieser einfachen harmonischen Gestaltung im ersten Band ziemlich alleine, was aber auch seine Popularität erklärt.
Thematisch geprägt wird das Prélude von einer für Debussy typischen melodischen Gestalt, einer pendelnden, zwei Takte lang zwischen des2 und es1 hin- und herschwingenden Melodie, die im dritten und vierten Takt sanft ausläuft und auf dem des1 zur Ruhe kommt. Sie ist während der Pendelbewegung komplett unbegleitet und wird nur beim Ausschwingen von zwei Akkorden (Ces-Dur und Ges-Dur) unterstützt. Im Gegensatz zu anderen Kompositionen Debussys, wo sich eine vergleichbare melodische Gestaltung findet (Prélude à l'après-midi d'un Faune oder Printemps) ist die rhythmische Ausgestaltung hier recht einfach gehalten: Im Grunde besteht die Melodie nur aus einer einzigen, aus einer Achtel und zwei Sechzehnteln bestehenden rhythmischen Figur, die insgesamt sechsmal hintereinander erklingt.
Notenbeispiel 1: "La fille aux cheveux de lin", Takt 1-4
Debussy schafft es dennoch, die für ihn charakteristische Taktverschleierung zu erreichen. Das bedeutet, dass man als Hörer die vorgeschriebene Taktart (hier 3/4-Takt) und das Metrum nicht erkennen soll. Er will damit erreichen, dass die Melodie sozusagen ohne festes Betonungsgefüge im Raum schwebt und damit Leichtigkeit ausstrahlt. Er wendet dazu drei Mittel an: zuerst beginnt er nicht direkt mit der ersten Achtel-Sechzehntel-Gruppe, sondern setzt eine Viertelnote davor, an die das erste rhythmische Motiv angebunden wird. Somit ist der Beginn der ersten Achtel-Sechzehntel-Gruppe rhythmisch unbestimmt. Zum anderen ist die melodische Pendelfigur exakt zwei Viertelschläge lang, bevor sie wiederholt wird, verschiebt sich metrisch also im 3/4-Takt von Schlag 2 im ersten Takt auf Schlag 1 im zweiten Takt. Debussy gaukelt also im Grunde einen 2/4-Takt vor. Das Metrum verunklaren soll schließlich die Vortragsbezeichnung "sans rigeur", die bedeutet, dass man den Beginn ohne Strenge, nicht akkurat spielen soll.
Als Tonmaterial wählte Debussy eine pentatonische Skala auf dem Grundton ges, die er in den ersten beiden Takten konsequent anwendet. Das f1 im dritten Takt gehört als Durchgangsnote nicht in diese Sphäre.
Notenbeispiel 2: Pentatonik auf ges
Die Verwendung von Pentatonik ist für Debussy zuallererst ein Mittel, um die bisher vorherrschenden Dur- und Molltonleitern zu ersetzen und neue Klänge zu finden. Nun ist die Pentatonik keine neue Skala - im Gegenteil, sie gehört zu den ältesten Skalen überhaupt und ist Grundlage der Musik bei vielen Völkern in unterschiedlichsten geographischen Regionen der Erde. Sie ist somit auch Basis für Folklore und Volksmusik und steht für eine Einfachkeit und Reinheit des Klanges. Sie kann sowohl Exotismen evozieren (Spielen Sie die schwarzen Tasten am Klavier in Quarten und Terzen!), als auch alt und ehrwürdig klingen. Debussy möchte hier vielleicht die reine, unberührte Seele des Mädchens mit der Pentatonik ausdrücken, ihren Bezug zur und ihre Einheit mit der idyllischen Natur.
Eins finden wir bei Debussy nie: das Wiederholungszeichen. Debussy ahmte in der Musik die Natur nach, bei der zwar das Zyklische dominiert, aber Wiederkehrendes nie vollständig identisch ist. Somit sind auch wiederkehrende Elemente wie zum Beispiel Themen oder Motive immer in neuen Varianten - man könnte hier auch von Beleuchtungen sprechen - vorhanden. Der Schlüssel für diese Beleuchtungswechsel liegt in der Harmonik. Debussy harmonisiert das Thema bei jedem Auftreten mit anderen Akkorden.
Hören Sie sich die drei Themenvariationen im Prélude an. Beim ersten Auftreten, der weitgehend unbegleiteten Version, finden sich nur am Ende zwei Akkorde: Ces-Dur und Ges-Dur. Ges-Dur ist gleichzeitig die Tonika, also die Grundtonart des Stücks, Ces-Dur die dazu gehörende Subdominante. Es handelt sich hierbei also um einen Plagalschluss.
Man spricht von einem Plagalschluss, wenn bei einer Kadenz die Tonika, also die Grundtonart, nicht über die Dominante, sondern über die Subdominante erreicht wird. Die Subdominante ist immer die IV. Stufe einer Tonleiter. In C-Dur ist die Subdominante F-Dur. Plagalschlüsse werden oft in der Kirchenmusik verwendet und verleihen der Musik einen archaischen Charakter.
Notenbeispiel 3: "La fille aux cheveux de lin", Takt 1-4 im Klaviersatz
Beim zweiten Auftreten in Takt 8 wird die Melodie zunächst von zwei parallel verschobenen Septakkorden begleitet. Es handelt sich dabei um Ges7 und As7. Parallel verschobene und aus dem Zusammenhang der funktionalen Harmonik herausgelöste Septakkorde sind ein typisches harmonisches Stilmittel Debussys. Im dritten Takt der Melodie kehrt Debussy wieder in die kadenzielle Harmonik zurück: dieses Mal mit einer Dominant-Tonika-Verbindung. Zielakkord ist also wieder Ges-Dur.
Notenbeispiel 4: "La fille aux cheveux de lin", Takt 8-11 im Klaviersatz
Das dritte Mal erscheint der Hauptgedanke ziemlich am Schluss des Prélude, ab Takt 28. Eine Oktave höher als bei den ersten beiden Malen und im Pianissimo gehalten klingt die Melodie wie eine Reminiszenz, ein bloßes Erinnern. Bevor der eigentliche Gedanke erscheint, hält die Musik mehr oder weniger an, bleibt auf dem Subdominant-Akkord Ces-Dur stehen, in den hinein um eine Viertel vorversetzt der Hauptgedanke beginnt. Dieser Akkord liegt nun drei Takte unbeweglich, bevor über es-Moll die Tonika Ges-Dur erreicht wird (Takt 32). Der dritte Takt des Hauptgedankens wird von Debussy augmentiert: die Melodie steigt jetzt in drei Vierteln vom ges zum des herab.
Notenbeispiel 5: "La fille aux cheveux de lin", Takt 28-32 im Klaviersatz
Bei den beschriebenen vier Takten des Hauptgedankens handelt es sich nicht um das vollständige Thema, sondern nur um den ersten von zwei Thementeilen. Man könnte hier im klassischen Sinn von Vordersatz und Nachsatz sprechen. Der Nachsatz setzt der insgesamt absteigenden Bewegung des Vordersatzes eine aufsteigende Linie entgegen (Schlusston es2) und komplettiert so das Thema. Während die Melodik des Nachsatzes wieder rein pentatonisch ist, wenden sich die Begleitakkorde in Takt 6 nach Es-Dur und bringen somit eine neue Klangfarbe in den musikalischen Verlauf.
Notenbeispiel 6: Vollständiges Thema, T. 1-7
Während Debussy bei jedem neuen Themeneinsatz im Vordersatz nur die Harmonik ändert, wird der Nachsatz auch melodisch stark variiert.
La fille aux cheveux de lin folgt keinem der gängigen formalen Modelle. Am ehesten könnte man noch eine Vierteiligkeit nachweisen, bei der jeder Abschnitt mit dem Hauptgedanken beginnt und diesen dann unterschiedlich fortführt. Dadurch besitzen die Abschnitte eine sehr unterschiedliche Länge.
Teil | Takte | Länge | Thema |
---|---|---|---|
1. Abschnitt | Takt 1-7 | 7 Takte | Hauptgedanke |
2. Abschnitt | Takt 8-23 | 16 Takte | Hauptgedanke mit anschließender Fortspinnung |
3. Abschnitt | Takt 24-27 | 4 Takte | Hauptgedanke verkürzt und variiert |
4. Abschnitt | Takt 28-39 | 12 Takte | Hauptgedanke mit Schlusswirkung (Coda) |
Dass auch die Takte 24-27 eine Variation des Hauptgedankens darstellen, ist nicht direkt offensichtlich. Folgende Gegenüberstellung der Takte 1 und 2 des Hauptgedankens mit den Takten 24 und 25 sollen diesen eher versteckten Bezug verdeutlichen.
Notenbeispiel 7: Vergleich des Takte 1 und 2 mit den Takten 24 und 25
Diese vier Takte als eigenständigen Abschnitt zu betrachten wird durch das Verzögern am Ende von Takt 23 (cédez) gerechtfertigt.
Eine harmonische Fortschreitung, die Debussy sehr gerne und häufig verwendet, sind parallel verschobene Akkorde (siehe Notenbeispiel 4). In den Takten 14 und 15 bewegt er verschiedene Dur- und Molldreiklänge (Ces-Dur, Des-Dur, Fes-Dur, Ges-Dur; as-Moll, b-Moll) in der zweiten Akkordumkehrung stufenweise auf- und abwärts.
Notenbeispiel 8: Parallel verschobene Dreiklänge, Takt 14-15
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