Nena: 99 Luftballons

Wie 99 luftige Ballons ganz ohne Refrain gen Osten und in die Hitparaden schwebten

Als zu Jahresanfang 2023 die ersten Meldungen über einen angeblichen chinesischen Spionageballon eintrafen, der über dem Staatsgebiet der USA gesichtet worden war, waren viele Menschen erstaunt. Ein Spionageballon in Zeiten, in denen man vom Weltraum aus fast schon eine Stecknadel erkennen kann? Außerdem könnte man ja kaum auffälliger spionieren als mit einem weit sichtbaren Ballon. Aber vielleicht war das ja genau die Strategie. So behauptete die chinesische Führung prompt, es handele sich um einen vom Weg abgekommenen Wetterballon und von Spionage könne hier keine Rede sein. Was die Amerikaner wiederum nicht daran hinderte, den Beteuerungen keinen Glauben zu schenken und den Ballon schlussendlich abzuschießen, nachdem er zuvor erstaunlicherweise ungehindert die ganzen Vereinigten Staaten überquert hatte.

Die ganze Aktion mutete irgendwie anachronistisch an, und so war es auch ganz logisch, dass man sich plötzlich an Nenas 99 Luftballons erinnerte, die ziemlich genau 40 Jahre zuvor durch die Lüfte geschwebt waren. Löste der Spionage-Ballon 2023 Spannungen zwischen China und den USA aus, so entstand Nenas Neue-Deutsche-Welle-Hit aus der Erfahrung des Kalten Kriegs, aus den allgegenwärtigen Spannungen zwischen den westlichen Staaten und dem kommunistischen Ostblock.

Diese waren sicherlich am eindringlichsten direkt an der innerdeutschen Grenze zu spüren, am strengestens bewachten und abgesicherten Grenzzaun, sowie an der Berliner Mauer. Genau hier, im geteilten Berlin auf der Westberliner Waldbühne hatte 99 Luftballons seinen Ausgangspunkt.


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Die Geschichte hinter 99 Luftballons wurde schon oft erzählt, auch von Nena selbst. Hier noch einmal die wichtigsten Fakten. Nena und ihre Band besuchten im Juni 1982 ein Konzert der Rolling Stones auf der besagten Waldbühne, als diese während ihres Auftritts große Trauben von Luftballons fliegen ließen. Carlo Karges, Nenas 2002 verstorbener Gitarrist und laut einem Spiegel-Artikel aus dem Jahr 1984 eine "freundliche Mischung aus Hippie und Rocker" (1), sah ihnen nach und dachte sich: "Was wäre, wenn die Dinger vom Wind rübergetrieben werden in den Osten und dort eine Paranoia auslösen?" (2) Aus diesem Gedanken heraus entstand der Liedtext, den er noch am selben Abend aufschrieb und der Band am Tag darauf im Probenraum präsentierte. Der Keyboarder der Nena-Band Uwe Fahrenkrog-Petersen vertonte den Text im Anschluss.

Nena hatte im selben Jahr 1982 im Mai mit der vorab veröffentlichten Single Nur geträumt ihren ersten Hit und stieg schnell zu einem der Stars der Neuen Deutschen Welle auf. Auf ihrer ersten, selbstbetitelten LP, die im Januar 1983 erschien, fand sich neben Nur geträumt auch 99 Luftballons, das als zweite Single des Albums ausgekoppelt wurde. Dass 99 Luftballons so durchstartete, war allerdings nicht nur dem Song selbst, sondern zwei glücklichen Umständen zu verdanken.

In den frühen Achtzigern hatten das Radio und im Speziellen einige angesagte Radiomoderatoren noch sehr viel Einfluss auf das meist jugendliche Publikum. Sie konnten Künstler mit bestimmten Songs, die sie in ihren Radioprogrammen immer wieder spielten, featuren und ihnen auf diese Weise enorme mediale Reichweite verschaffen. So geschah es auch bei 99 Luftballons. Der Radiomoderator saß aber nicht in Deutschland, sondern in den USA, genauer in Pasadena, Kalifornien. Es war Rodney Bingenheimer von der alternativen Radiostation KROQ (sprich kay-rock), der junge noch unbekannte Künstler in seine Sendung einlud und sie damit weit über Kalifornien bekannt machte.

In diese Sendung kam auch Christiane F., die allerdings keine Musikerin war. Christiane Felscherinow, wie sie mit vollem Namen hieß, war als Jugendliche in die Berliner Drogenszene am Bahnhof Zoo abgerutscht. Sie hatte ein autobiographisches Buch über ihr Leben veröffentlicht, das Wir Kinder vom Bahnhof Zoo hieß und das sie promotete. Sie hatte in der Sendung bei Rodney Bingenheimer einige Tapes mit ihren Lieblingssongs dabei, darunter auch 99 Luftballons. Bingenheimer war von dem Song so eingenommen, dass er ihn immer wieder spielte. Andere Radiostationen griffen ihn auf, und so wurde 99 Luftballons in den USA ein Hit.

Dieser Erfolg, zu dem Nena oder ihre Plattenfirma absolut nichts beigetragen hatten, kam für alle Beteiligten völlig überraschend. Schnell produzierte man eine englische Version, die aber nicht den Charme des Originals hatte und weder von der Band noch vom Publikum in den englischsprachigen Ländern so recht geschätzt wurde. Man benötigte aber auch ein Video, und das was folgte war der zweite glückliche Umstand.

Inzwischen war man auch beim holländischen TV-Sender AVRO auf Nenas Song aufmerksam geworden. AVRO produzierte für das niederländische Fernsehen die TV Show Toppop, die wöchentlich ausgestrahlt wurde und stets die neuesten Popsongs präsentierte. Man lud dazu die Künstler ins Studio in die Niederlande ein, um dort eine Videoaufzeichnung vorzunehmen, nahm Videos aber auch an anderen Orten auf, falls die Künstler nicht in die Niederlande kommen konnten. Für Nenas 99 Luftballons hatte man sich aber etwas Besonderes einfallen lassen. Man folgte dabei der Idee, die man schon zwei Jahre zuvor bei Bollands You're in the army now umgesetzt hatte: Man hatte die die Band im Studio vor ein riesiges Tarnnetz positioniert und den Song mit Fake-Explosionen untermalt, die als Lichteffekte und Rauch aus der Nebelmaschine zutage traten. Ab und an hielt auch mal ein Komparse im Vordergrund eine Maschinenpistole in die Kamera. (3)

Zwei Jahre später, bei Nena, hielt man das wahrscheinlich für zu kindisch und entschloss sich, die im Songtext geschilderte kriegerische Eskalation im Video reeller zu inszenieren. So fand der Dreh nicht im Studio, sondern auf dem Truppenübungsplatz Schietkamp De Harskamp in der holländischen Provinz Gelderland statt. Das niederländische Militär hatte den Drehort schon gut präpariert, und als die Kameras liefen und die Band auf einer mitten im Übungsgelände aufgebauten Bühne ihren Auftritt mimte, detonierten wirkliche Sprengkörper im Hintergrund. Anscheinend hatten Nena und ihre Band nicht gewusst, was sie erwartete, als sie zum Dreh fuhren. Und anscheinend hatten sie auch nicht wirklich einschätzen können, welche Wucht solche Detonationen haben können, denn im Video sieht man gegen Schluss, wie sich Nena zuerst die Ohren zuhält und die Bandmitglieder einer nach dem anderen von ihren Instrumenten aufstehen und von der Bühne flüchten, während im Hintergrund die Bomben hochgehen.

Als das Video auf MTV in die "heavy rotation" aufgenommen wurde, zementierte dies den Erfolg des Songs endgültig. Dabei hatte Nenas Plattenfirma die 99 Luftballons erst gar nicht als Single auskoppeln wollen mit der Begründung der Song hätte keinen Refrain. (4) Das stimmt in der Tat, kann aber natürlich nicht als Begründung dienen. Dennoch muss man konstatieren, dass der Song definitiv eine ungewöhnliche Songstruktur besitzt. Das beginnt schon damit, dass 99 Luftballons ein ruhiges, von Keyboard-Klangflächen dominiertes Intro in der Art eines Prologs besitzt, dem am Ende eine gleich gestaltetes als Epilog entgegengesetzt wird. Ungewöhnlich ist auch, dass der Song aus einem ständigen Wechsel zwischen gesungenen und rein instrumentalen Teilen besteht. Die instrumental gespielten Teile nehmen dabei einen großen Raum ein (insgesamt 1:42 Minuten bei einer Gesamtlänge von 4:36 Minuten - der erste Instrumentalteil nach dem Intro ist mit 41 Sekunden der längste Abschnitt des ganzen Songs) und dienen so als Ausgleich dafür, dass die einzelnen Gesangsstrophen eine Länge von nur 19 Sekunden haben und es wie schon erwähnt keinen Refrain gibt.

Aber warum funktioniert ein Song auch ohne Refrain? Als Ersatz für einen Refrain dient normalerweise eine Hookline, die sich entweder am Anfang oder am Ende eines Strophenteils befindet und mit einer gleichbleibenden Textphrase verbunden ist. Bei 99 Luftballons sind das genau die "99 Luftballons", die jeweils am Anfang und auch am Ende jeder Strophe als textlicher Aufhänger und melodische Hookline für den nötigen Wiedererkennungswert sorgen, indem sie sich im Ohr "festhaken", so wie es der englische Begriff "Hookline" impliziert.

Im Übrigen gibt es viele Pop- und Rocksongs, die auf einen Refrain zugunsten einer Hookline verzichten, was mit dem Erfolg oder Nichterfolg eines Songs nicht im Geringsten zusammenhängt. So konnten Nenas 99 Luftballons auch ohne Refrain zu einem Klassiker aufsteigen, der auch über 40 Jahre später wahrscheinlich nichts von seinem Bekanntheitsgrad eingebüßt hat und mit seiner Kriegsthematik auf beklemmende Weise stets aktuell bleibt.

(1) Zitiert nach: Unbekannt. 99 Luftballons und das Chaos der Gefühle, 25.03.1984. https://www.spiegel.de/kultur/99-luftballons-und-das-chaos-der-gefuehle-a-06c307b0-0002-0001-0000-000013510424?context=issue. Abgerufen am 15.10.2025.
(2) ebda.
(3) Die Videos von Toppop sind auf youtube.com abrufbar, auch das beschriebene Video You're in the army now von Bolland vom 7.11.1981. https://www.youtube.com/watch?v=6zxiSotpPzs&list=RD6zxiSotpPzs&start_radio=1. Abgerufen am 15.10.2025.
(4) Video von Toppop: Nenas 99 Luftballons vom 13.3.1983. https://www.youtube.com/watch?v=a8ieA5drStA&list=RDa8ieA5drStA&start_radio=1. Abgerufen am 15.10.2025.

Kontakt

  © 2025 by Jochen Scheytt

Jochen Scheytt
ist Lehrer, Pianist, Komponist, Arrangeur, Autor und unterrichtet an der Musikhochschule in Stuttgart und am Schlossgymnasium in Kirchheim unter Teck.