U.S.A. For Africa: We Are The World

Die Nacht der Nächte

Die Filmaufnahmen (1) aus dem Tonstudio sind auch nach so vielen Jahren noch eindrücklich. Wie Bob Geldof, der Initiator von "Band Aid", dem britischen Vorbild von "U.S.A. For Africa", eine kurze Begrüßungsansprache über die Erfahrungen seines Besuchs im äthiopischen Hungergebiet hält und dabei in bedröppelte Gesichter schaut. Wie Stevie Wonder eine Diskussion darüber entfacht, dass seiner Meinung nach unbedingt eine Textzeile in Kiswahili integriert werden müsse und alle im Durcheinander mehr oder weniger überzeugt versuchen, das phonetisch umzusetzen, bevor das Argument, Kiswahili werde in Äthiopien gar nicht gesprochen die Diskussion beendet.

Wie die Auswahl aus den damals bekanntesten und besten Künstlern der Vereinigten Staaten sich wie eine Schulklasse um Stevie Wonder am Klavier schart, um ihre kurzen Melodiephrasen zu üben. Wie alle dem völlig überwältigten Initiator Harry Belafonte eine improvisierte Version seines größten Hits, dem Banana Boat Song singen. Wie Quincy Jones und Lionel Richie den völlig übermüdeten, skeptischen und verunsicherten Bob Dylan nach seinem Gesangssolo umarmen und ihm versichern, alles sei super gewesen. Oder wie Bruce Springsteen versucht, nach einer langen und anstrengenden Tournee und einer durchgemachten Nacht, die letzten Reste seiner Stimme zu reaktivieren.

Das eindrücklichste ist aber vielleicht, wie die 45 Sängerinnen und Sänger zusammen daran arbeiten, in einer einzigen Nacht das möglich zu machen, wozu sie letztendlich eingeladen worden waren. Einen Song aufzunehmen, der nur ein Ziel hatte, nämlich den hungernden Menschen in Afrika zu helfen. Die Hungersnöte, die Äthiopien und Eritrea 1984 heimsuchten, waren durch die Berichterstattung in den Medien verstärkt ins Bewusstsein der westlichen Öffentlichkeit geraten und lösten neben großer Betroffenheit eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. Mit We are the World wollten die versammelten Künstlerinnen und Künstler, die unter dem Bandnamen U.S.A. for Africa (=United Support of Artists for Africa) firmierten, nun ihren Beitrag leisten.


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Für die Vorbereitungen war kaum Zeit gewesen. Am 29. November 1984 war die Single Do they know it's Christmas veröffentlicht worden, bei der Bob Geldof und Midge Ure die Crème de la Crème der englischen und irischen Popmusik zusammengetrommelt hatten, um für die Hungersnot in Afrika Geld einzusammeln. Bei dieser Aufnahme wirkten unter anderem Freddie Mercury, Sting, Phil Collins, Paul McCartney, George Michael, Nik Kershaw, Paul Young und viele weitere Musiker mit. Der Erfolg dieser Aufnahme brachte den US-amerikanischen Sänger und Menschenrechtler Harry Belafonte auf die Idee, ein ähnliches Projekt in den U.S.A. zu starten, bei dem ausschließlich afro-amerikanische Musiker zum gleichen Zweck musizieren sollten.

Er kontaktierte kurz vor Weihnachten 1984 den Musikmanager und TV-Produzenten Ken Kragen in Los Angeles, der unter anderem Lionel Richie und den Country-Musik-Star Kenny Rodgers managte. Belafontes Idee eines Charity-Konzerts wurde von Kragen allerdings mit Skepsis gesehen. Er riet Belafonte, stattdessen wie Band Aid eine Tonaufnahme zu machen. Auch die Idee mit den ausschließlich afro-amerikanischen Musikern wurde aufgegeben. Kragen beauftragte Lionel Richie, einen entsprechenden Song zu schreiben und machte sich daran, die Sänger zu organisieren. Doch schon nach kurzer Zeit merkten Kragen und sein Team, dass dies fast nicht möglich war, da die Terminkalender der Stars schon über Monate und Jahre hinweg voll waren.

Die Frage war: Wie bekommt man 45 vielbeschäftigte Musiker zu einem gemeinsamen Aufnahmetermin zusammen? Dafür gab es nur eine Lösung: Die American Music Awards, eine große, im Fernsehen übertragene Show, ähnlich wie die Grammys oder Oscars, die jährlich in Los Angeles stattfand. Hierfür reisten ganz viele Stars sowieso nach Los Angeles. Das Problem an der Sache war allerdings der Termin. Es war der 28. Januar 1985. Das bedeutete, dass man für das ganze Projekt nur einen Vorlauf von circa einem Monat hatte. Doch es war die einzige Chance. So plante man die Aufnahmesession für den 28. Januar in den A&M Studios in Los Angeles, und zwar nach der offiziellen Preisverleihung der American Music Awards am Abend.

Während Kragen und sein Team die Musiker organisierten, kümmerte sich Lionel Richie um die musikalische Seite und wandte sich an einen alten Freund aus den Tagen bei Motown, Stevie Wonder. Dieser ging allerdings nicht ans Telefon und rief auch nicht zurück. Man hatte inzwischen mit Quincy Jones noch ein weiteres musikalisches Schwergewicht dazugeholt, der den Song produzieren und die Aufnahmesession leiten sollte. Quincy Jones schlug vor, Michael Jackson als Co-Songschreiber zu anzufragen und kontaktierte ihn. Nachdem sich Stevie Wonder nicht regte, beschlossen Lionel Richie und Michael Jackson, gemeinsam den Song zu schreiben. Sie verkrochen sich dazu in Michael Jacksons Haus und starteten mit dem sprichwörtlichen weißen, unbeschriebenen Blatt Papier.

Inzwischen flatterten die Zusagen nur so herein. Einzig Madonna konnte sich nicht durchringen, ihre Tournee zu unterbrechen und Prince, den man unbedingt haben wollte, konnte sich aus nicht nachvollziehbaren Gründen weder dafür noch dagegen entscheiden, erschien aber schlussendlich doch nicht bei der Aufnahmesitzung. (2) Auch bei Bruce Springsteen war es lange unklar, ob er einen Tag nach seinem Tourneeabschluss rechtzeitig in Los Angeles ankommen würde.

Als klar war, wer an der Aufnahme teilnehmen würde, hatten Richie und Jackson noch keinen Song. Und jeder große Namen auf der Teilnehmerliste erhöhte den Druck auf die beiden. Man kann sich den Druck gut vorstellen. 45 Showgrößen, die fest gebucht sind, um sich die Nacht um die Ohren zu schlagen, und man hat keinen passenden, qualitativ hochwertigen, emotional mitreißenden Song? Ein absolutes Unding. So stieg der Druck mit jedem Tag. Am 18. Januar, 10 Tage vor dem Event hatten die beiden immer noch kein Ergebnis.

Erst zwei Tage später, am 20. Januar, war der Song fertig. Man schickte ihn Quincy Jones, der ihn gut fand. Hektisch wurde ein Playback erstellt, zu dem Richie, Jackson und Wonder die Melodie einsangen. Dieses Demo wurde am 24. Januar, erst vier Tage vor der Aufnahmesession, an die Mitwirkenden verschickt. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete der Vocal Arranger Tom Bahler daran, die Solisten in eine passende Reihenfolge zu bringen und ihnen damit eine Textzeile und Melodiephrase fest zuzuordnen. Er hörte sich zu diesem Zweck von allen vorgesehenen Solisten Aufnahmen an, analysierte sie nach Tonumfang, Stimmfärbung oder Intensität, um dann einen abwechslungsreichen und in sich stimmigen Ablauf zu erstellen.

Und damit sind wir wieder bei den Filmaufnahmen, die das Geschehen der Nacht auf Zelluloid bannten und aus denen das Video zum Song hergestellt wurde. Kennt man nur dieses Video, kann man nicht nachvollziehen, unter welch schwierigen Umständen We are the World entstand. Alle Beteiligten wussten, dass man nur diese eine Nacht hatte, und die Vorbereitungszeit minimal gewesen war. So mussten alle erst einmal ein Gefühl für den Song und für die eigene Rolle bekommen. Besonderem Druck waren aber die Organisatoren, allen voran Quincy Jones und Lionel Richie, ausgesetzt, die in dieser Nacht alle Individualisten auf einen gemeinsamen Nenner und auf den Punkt bringen mussten; Quincy Jones in organisatorischer und musikalischer, und Lionel Richie eher in psychologischer Hinsicht.

Denn die erste Ernüchterung folgte schon bald nach Beginn. Der Versuch, den Refrain als gemeinsamen Chor einzusingen, scheiterte zunächst daran, dass die Sängerinnen und Sänger zwar alle in ihrer Art tolle Sänger waren, aber null Chorerfahrung hatten und ihre Stimme gar nicht wie in den Noten gefordert einsetzen konnten. Für viele war die Tonlage schlicht zu hoch und Quincy Jones' Anweisung den Gesang auszusetzen, wenn man die eigene Stimmlage verlässt, sorgte dafür, dass manche völlig verunsichert waren. Dies mag man stellvertretend an Bob Dylans Gesicht ablesen, der - wie es Matthias Halbig so böse wie treffend formulierte - "wie ein Rabe, den es versehentlich unter Nachtigallen verschlagen hat" (3) im Chor stand.

Doch auch die Aufnahmen der Soloparts verliefen nicht reibungslos. Die Sängerinnen und Sänger hatten einfach sehr wenig Zeit zur Vorbereitung gehabt und die Tatsache, dass alle ihr Solo im Halbkreis vor allen anderen singen mussten, trug nicht gerade zur Entspannung bei. Einzig Michael Jackson hatte seine Solostellen schon im Vorfeld alleine im Studio eingesungen - er wich dieser Drucksituation damit gezielt aus. Insgesamt dauerte die ganze Aufnahmeprozedur bis um 7 Uhr morgens. Erst um 8 Uhr waren alle wieder abgereist. Nur Diana Ross blieb noch da und erfasste die Tragweite des Ereignisses am besten, als sie unter Tränen sagte: "I don't want this to be over." (4)

Sicher mit zum Erfolg beigetragen hatte das Schild, das Quincy Jones am Eingang hatte aufhängen lassen, und an dem alle Mitwirkenden dieser legendären Nacht vorbei mussten. Es trug die Aufschrift "Check your egos at the door". "Lasst eure Egos draußen." In dieser Nacht hatte es funktioniert.

(1) Die Aufnahmesession am 28.1.1984 wurde von mehreren Kameraleuten auf Film festgehalten und als "Making Of" auf Videokassette veröffentlicht. Die Aufnahmen sind jetzt in einer neuen Dokumentation wieder zugänglich: The Greatest Night in Pop Netflix-Dokumentation. Regie: Bao Nguyen, 2024. Abgerufen am 8.3.2024.
(2) Man hatte bis zum letzten Moment ein Solo für ihn freigehalten, das dann mit Huey Lewis besetzt wurde, als klar war, dass Prince nicht kommen würde.
(3) Halbig, Matthias. Hilfreichster Popsong aller Zeiten: Die Nacht, in der „We Are the World“ entstand. https://www.rnd.de/kultur/the-greatest-night-in-pop-auf-netflix-die-geschichte-hinter-we-are-the-world-A4LT3OY3S5B23EVKLUW47RAMZA.html. 07.03.2024. Abgerufen am 10.3.2024.
(4) Nguyen, Bao. The Greatest Night in Pop Netflix-Dokumentation, 2024. Abgerufen am 8.3.2024.

Kontakt

  © 2024 by Jochen Scheytt

Jochen Scheytt
ist Lehrer, Pianist, Komponist, Arrangeur, Autor und unterrichtet an der Musikhochschule in Stuttgart und am Schlossgymnasium in Kirchheim unter Teck.