Sting: Russians

Eine Melodie Sergej Prokofievs als symbolisches Motiv in Stings Anti-Kriegs-Song

Die Uhr tickt. Unaufhaltsam. Unerbittlich. Was man normalerweise gar nicht mehr hört, weil das Ohr überflüssige Geräusche monotoner Art einfach mit der Zeit ausblendet, kann in schlaflosen Nächten um so mehr nerven. Doch das Ticken der Uhr kann auch aufgeladen sein mit symbolischer Bedeutung, wie dies bei der tickenden Uhr am Anfang und Schluss von Stings Song Russians der Fall ist. Das Ticken der Uhr als Bedrohung, als Zeit, die fast abgelaufen ist. Das Ticken als eine Zeitbombe, die nicht mehr lange braucht, bis sie explodiert.

Die beiden Supermächte USA und UdSSR hatten in den 1980er Jahren ein unvorstellbares Bedrohungspotenzial aus gegeneinander ausgerichteten Atomraketen aufgebaut. Der Kalte Krieg zwischen den westlichen Staaten der NATO und dem Ostblock war in seine letzte Phase getreten. Die Welt hatte Angst vor dem Erstschlag, lebte in der Furcht davor, dass irgendjemand die Nerven verlieren, den berühmten Roten Knopf drücken und so die erste Atomrakete starten würde. Denn dass es jemand mit voller Absicht tun würde war eher unwahrscheinlich. Der Angegriffene hätte genug Zeit gehabt, die eigenen Atomraketen zu starten und der Angreifer wäre so unweigerlich in sein eigenes Verderben gerannt. Trotzdem, die Furcht blieb, und so veröffentlichte Sting im Jahr 1985 auf seinem Album The Dream Of The Blue Turtles den Titel Russians, der sich mit dieser Gefahr auseinander setzte.

In unserer heutigen globalisierten Welt mit dem allgegenwärtigen Internet kann man sich die Abschottung des Kalten Kriegs nicht mehr wirklich vorstellen. Die Grenze zwischen Ost und West war ja nicht nur in Zäunen und Grenzanlagen direkt sicht- und spürbar. Die Welt hinter diesen Stacheldrähten war größtenteils unerreichbar, und den wenigen, die einreisen durften, wurde der Kontakt zur Bevölkerung systematisch verwehrt. Somit war das System in Ermangelung anderer Erfahrungen gleichbedeutend mit den Menschen, die dort lebten. Dies galt für beide Seiten, Ost und West. So schreibt Sting, dass er zur Entstehungszeit von Russians durch die offizielle westliche Lesart fest davon überzeugt gewesen sei, dass die russische Bevölkerung nur aus grauen, unmenschlichen Robotern bestanden hätte, die immer bereit gewesen wären alles in die Luft gehen zu lassen. (1)


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Dass dem nicht so war, fand Sting durch ein persönliches Erlebnis heraus, das auch den konkreten Anlass zur Komposition von Russians darstellte. Sting lebte damals, zu Beginn der 1980er Jahre in New York. Ein Freund, so Sting, besaß ein technisches Gerät, mit dem sich das Signal russischer Satelliten abfangen ließ. So saßen sie zu zweit nachts in dessen Wohnung und schauten das Morgenprogramm des russischen Fernsehen, das zu dieser Zeit ein Kinderprogramm sendete. Dieses war so liebevoll gemacht, dass Sting merkte, dass im Ostblock auch Menschen lebten, und keine Roboter. (2) Hieraus erklärt sich auch die zentrale Aussage des Songs, die die Hoffnung darauf zum Ausdruck bringt, dass auch die Russen ihre Kinder lieben, und deshalb ihr ständiges Säbelrasseln gegenüber dem Westen nicht in die Tat umsetzen.

Auch Stings Sohn spielte bei der Entstehung eine Rolle. Er fragte den Papa, ob es wahr sei, dass es eine Bombe gebe, die die Welt in Schutt und Asche legen könne. Diese Frage findet sich verklausuliert auch im Liedtext von Russians , wenn Sting fragt "How can I save my little boy from Oppenheimer's deadly toy?". (3) Die Atombombe wurde in den USA während des II. Weltkriegs unter der Leitung von J. Robert Oppenheimer, einem amerikanischen Physiker, in Los Alamos in der Wüste von New Mexico entwickelt und gebaut. Die ganze Textzeile besitzt im übrigen eine interessante Doppeldeutigkeit, da die erste, auf Hieroshima abgeworfene Atombombe den Codenamen "Little Boy" trug.

Im Liedtext finden sich weitere Verweise auf die Zeit des Kalten Kriegs, in dem die Rhetorik oft durchaus drastisch und furchteinflößend war. So zitiert Sting in seinem Liedtext den Ausspruch des sowjetischen Staatschefs Nikita Chruschtschow, der im November 1956 den Westen mit den Worten "We will bury you" bedrohte. Diese Aussage, die eine Woche nachdem sie getätigt wurde im Time-Magazine veröffentlicht wurde, hatte lang anhaltende Wirkung auf die westliche Welt, auch wenn Chruschtschow sie Jahre später relativierte.

Aber auch die US-amerikanische Seite pflegte die verbalen Zündeleien. Zur Zeit der ersten Präsidentschaft Ronald Reagans in den frühen 1980er Jahren gab es darüber hinaus eine mit Erhöhung der Rüstungsausgaben verbundene verstärkte Bekämpfung des Kommunismus. In diese Zeit fallen auch die ersten Pläne für einen Abwehrschirm gegen russische Interkontinentalraketen (Strategic Defense Initiative SDI), auf die Sting im Liedtext anspielt ("Mr. Reagan said we will protect you"). (4)

Musikalisch gab Sting diesem Stück, das aus dem üblichen Popsound herausfällt, einen schwermütigen Charakter mit auf den Weg. Mehr noch, um einen Bezug zu Russland zu erreichen, benutzte er eine Originalmelodie des russischen Komponisten Sergej Prokofiev (1891-1953), die dieser für den sowjetischen Film Leutnant Kijé aus dem Jahr 1934 geschrieben hatte. Später stellte Prokofiev aus dem musikalischen Material des Films eine sinfonische Suite zusammen, die 1937 als op. 60 in Paris ihre Uraufführung erlebte. Sie besteht aus fünf Sätzen. Das Thema des zweiten, Romance überschriebenen Satzes verwendete Sting für die instrumentalen Zwischenteile von Russians.

Durch die Verwendung des sinfonischen Themas Prokofievs lag es nahe, die Einspielung Russians im Studio mit mit einem richtigen Orchester vorzunehmen. Dies hatte Sting auch vor, allerdings wollte er nicht irgendein Orchester, sondern das Leningrad State Orchestra. Die Idee war die eines völkerverbindenden Projekts, wo sich Musiker von diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs treffen und das Menschliche in den Vordergrund rücken sollten. Doch, wie Sting einsehen musste, war man etwas naiv an die Sache herangegangen. Man hatte sich vorgestellt, in einer Zeitspanne von drei Wochen eine Genehmigung zu bekommen, um in Leningrad aufzunehmen, doch die russische Bürokratie spielte nicht mit. (5) So begrub man das gemeinsame Projekt.

In den 1980er Jahren beschäftigten sich noch weitere Musiker mit der Thematik des Kalten Kriegs: Billy Joel zeigte in Leningrad anhand von zwei Einzelschicksalen (einem aus den USA - Billy Joel selbst - und einem aus Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg), die miteinander verknüpft werden, wie nah sich die Menschen in Ost und West bei aller politischer Feindschaft menschlich waren. Die deutsche Gruppe Spliff stellte im Song Computer sind doof auf satirische Art und Weise dar, wie das Bedrohungsszenario des Kalten Krieges auch zum dritten Weltkrieg hätte führen können.

(1) Record, 9/85. Zitiert nach https://www.sting.com/discography/album/182/Singles. Abgerufen am 9.10.2021.
(2) Independent On Sunday, 11/94. Zitiert nach https://www.sting.com/discography/album/182/Singles. Abgerufen am 9.10.2021.
(3) Sumner, Gordon Mathew. Russians [Liedtext]. EMI Music Publishing Germany GmbH
(4) ebda.
(5) Record, 6/85. Zitiert nach https://www.sting.com/discography/album/182/Singles. Abgerufen am 9.10.2021

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  © 2024 by Jochen Scheytt

Jochen Scheytt
ist Lehrer, Pianist, Komponist, Arrangeur, Autor und unterrichtet an der Musikhochschule in Stuttgart und am Schlossgymnasium in Kirchheim unter Teck.