Simple Minds: Belfast Child

Wenn die Kinder nicht mehr singen - die Simple Minds über den Religionskonflikt in Nordirland

Die Vorstellung fällt schwer, wie es wohl in den 1970ern und 1980ern während der schlimmen Phase des Nordirlandkonflikts in Belfast gewesen sein mag. Fährt man heutzutage durch Belfast, fällt die Vergangenheit der Stadt gar nicht auf. Das Leben pulsiert in der Innenstadt wie in den anderen Städten Irlands auch. Nur in den Vororten ist das Erbe noch deutlich sichtbar, vor allem an den allgegenwärtigen "Murals", den Wandzeichnungen, die die religiöse und politische Ausrichtung der jeweiligen Gegend demonstrieren.

Und in manchen dieser Vororte, dort wo die Wohnviertel der beiden Religionsgruppen, der Katholiken und der Protestanten, direkt aneinandergrenzen, sind auch heute noch die unterschwelligen und manchmal auch noch kurz aufflackernden alten Ressentiments und der alte Hass zu bemerken. Trotz allem, wie gesagt, kein Vergleich zum Belfast von damals, der Zeit des Terrors und der Bomben und der offenen Gewalt, die heute im englischen Sprachraum "the Troubles", die Unruhen, genannt wird.

Belfast Child ist einer der vielen Songs, die vom Nordirlandkonflikt handeln. Anders als zum Beispiel Sunday, Bloody Sunday von U2 bezieht sich Belfast Child nicht auf ein besonderes Ereignis. Es ist mehr eine atmosphärische Beschreibung des Zustands der Stadt. Das Belfast Child ist hier als Metapher zu verstehen für die Kinder der Stadt, und damit verbunden die kindliche Unschuld, die unter dem Bürgerkrieg am meisten leidet. Dass diese Kinderstimmen ruhig sind und nicht mehr singen, nicht mehr lärmen, macht Belfast zu einem Ort der gespenstischen Stille; ein Ort. der nicht mehr lebt, und an dem man nicht mehr leben möchte. Der Schluss macht dann doch noch Hoffnung, wenn eine Zukunft der Stadt vorstellbar scheint und man wieder nach Belfast zurückkommen möchte, wenn die Kinder eines Tages wieder singen, oder in anderen Worten, wenn der unsägliche Konflikt beendet sein wird.


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Die Simple Minds werden für diesen Song aber auch oft kritisiert. Er würde allzu pathetisch und emotional daherkommen, der Liedtext sei dabei nicht tiefgründig, sondern klischeehaft, und außerdem wüssten die Simple Minds als schottische Band nichts davon, was in Belfast wirklich vorgehe.

Dabei tut man der Band sicherlich Unrecht, denn es war ihnen damals ein echtes Anliegen, der Betroffenheit über diesen mitten in Europa tobenden Konflikt Ausdruck zu geben. Außerdem lässt man dabei außer Acht, dass Belfast Child in das Album Street Fighting Years eingebettet war, das sich mit aktuellen Konflikten und Menschenrechtsverletzungen auseinandersetzte. Der Titelsong Street Fighting Years ist dem vom Regime ermordeten chilenischen Sänger Victor Jara gewidmet, und sowohl Mandela Day wie das Cover von Peter Gabriels Biko beschäftigen sich mit dem Apardheitsregime Südafrikas.

Hinzu kommt, dass Jim Kerr, der Leadsänger der Simple Minds, familiäre Verbindungen nach Nordirland hat, da die Familie seines Vaters kommt ursprünglich von dort kommt. Schließlich haben sich die Simple Minds musikalisch auch noch um Authentizität bemüht, indem sie als Melodie ein bekanntes irisches Volkslied mit dem Titel She Moved Through The Fair verwendet haben. Diese Melodie soll angeblich ihre Ursprünge im Mittelalter haben. Sie hat einen sehr ruhigen, getragenen und etwas melancholischen Charakter, was auch die entsprechende Stimmung im Belfast Child erklärt.

Irische Anklänge finden sich aber auch in der Verwendung der für die irische Volksmusik so typischen Flöte in den Zwischenspielen und dem vom irischen Schlaginstrument Bodhran gespielten Trommelrhythmus, der dem langen Instrumentalteil in der Mitte zu Grunde liegt. Dieser Rhythmus besitzt gleichzeitig noch einen drohenden, fast militärischen Charakter, wodurch sich der Kreis zur politischen Thematik wieder schließt.

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  © 2024 by Jochen Scheytt

Jochen Scheytt
ist Lehrer, Pianist, Komponist, Arrangeur, Autor und unterrichtet an der Musikhochschule in Stuttgart und am Schlossgymnasium in Kirchheim unter Teck.